Bernt Lie

Bernt Lie

Bernt Lie schrieb in den Jahren vor und nach 1900 eine Reihe populärer Romane und Erzählungen, wobei besonders seine Bücher für Jungen starke Beachtung fanden.
In Mandal geboren, verbrachte er seine Kinderjahre dort, in Trondheim und in Kristiania (heute Oslo), bis er als 15jähriger nach Tromsø kam, wo sein Vater Stadtrichter geworden war. Hier ging er auf die Lateinschule und legte 1886 das Examen artium ab.
Diese drei Jahre in Tromsø wurden sehr wichtig für seine schriftstellerische Tätigkeit, immer wieder wendet er sich in seinen Romanen diesem nördlichen Landesteil zu, besonders dem farbenfrohen, ein wenig exotischen Kleinstadtmilieu in Tromsø.
Bernt Lie machte eine Ausbildung zum Juristen, verfolgte aber parallel seine literarischen Interessen. Im gleichen Jahr, in dem er sein juristisches Examen 1891 ablegte, fand auch seine Novelle „Metje Kaisa“ öffentliche Beachtung, eine düstere Schilderung des Lebens in der Finnmark. Im folgenden Jahr debütierte er mit dem Roman „I Æventyrland“, einer romantisierenden Beschreibung eines nach Nordnorwegen reisenden Malers, welcher sich sowohl in die Landschaft wie auch in eine junge Frau verliebt. Hier fand er zu seinem freundlich unterhaltenden, leicht pathetischen Erzählweise, die für ihn typisch wurde.
Lie heiratete 1894 und im gleichen Jahr verließ das Ehepaar Norwegen. Sie reisten viel, wohnten aber hauptsächlich in Rom bis zum Jahr 1910, als sie zurückkehrten und sich in Lillehammer niederließen.
In schöner Regelmäßigkeit folgten nun Erzählungen aus dem bürgerlichen Milieu, die meisten Handlungen spielten in Nord-Norwegen, es gab aber auch Milieustudien aus Kristiania und aus skandinavischen Künstlerkreisen in Italien. Allein in den 1890iger Jahren erschienen:  Justus Hjelm, Nordover. Fortællinger og Billeder, Kasper Bugge og I Knut Arnebergs Hus. Der letzte Roman, dessen Handlung in Kristiania stattfand, aber dennoch starke Bezüge nach Norden aufwies, verfolgte ein Thema, welches typisch für sein Autorenleben war: Missverständnisse, mangelnde Kommunikation und Verstummen zwischen zwei Eheleuten, die eigentlich miteinander glücklich waren, aber von etwas zu engen Freunden des Hauses verunsichert werden konnten.
Ein anderes Thema seines Schreibens ist die Spannung zwischen Lebenslust und puritanischem Pflichtgefühl, ein Thema, welches auftritt in Søster Judith (1901) und in den Fortsetzungen Et Særsyn und Overlærer Hauch, aber besonders gründlich ausgeleuchtet wurde es in seinem wohl besten Roman Mot Overmagt (1907). Hier ist die Hauptperson der pietistische Pfarrer Søren Rømer, welcher in seiner ersten Anstellung in Nord-Norwegen eine temperamentvolle, leidenschaftliche Frau trifft, die ihn sowohl fasziniert als auch abstößt und vor der er flieht. Als sie ihm folgt, gibt er seiner Leidenschaft nach, begeht schließlich jedoch Selbstmord aus religiöser Verzweiflung.
Die Bücher Bernt Lies sprachen ein großes Publikum an. Besonders populär waren seine in Tromsø spielenden Jungenromane:  Sorte Ørn, Svend Bidevind, Peter Napoleon og Guttedage. Hauptsächlich waren es Kinder der Beamtenschicht, um die sich die Handlung drehte und Lie erzählte mit Humor und Einfühlungsvermögen von den Spielen der Jungen, ihren Konflikten und Abenteuern als Schüler der Lateinschule in Tromsø. Sven Bidevind, eine der Hauptfiguren, taucht später vereinzelt in weiteren Romanen als erwachsene Figur wieder auf.
In seinem letzten Buch, dem Schauspiel En Racekamp (1915), richtet Bernt Lie seinen Blick auf eine andere und dunklere Seite des nord-norwegischen Milieus, auf den Konflikt zwischen den sesshaften Norwegern und den Samen.
Lie war sehr produktiv und äußerst populär. In den Jahren nach 1900 war er einer der meistgelesenen Autoren in Norwegen. 
Sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch ließ Bernt Lie den Kontakt nach Nord-Norwegen nicht abreißen. Als er 1916 starb, wurde er auf dem Friedhof von Tromsø beerdigt und bis in die 60iger Jahre hinein schmückten die Abiturienten am Nationalfeiertag sein Grab.

Quelle: Knutsen, Nils Magne. (2009, 13. februar). Bernt Lie. I Norsk biografisk leksikon. Hentet 24. april 2017 fra https://nbl.snl.no/Bernt_Lie.
Bildquelle: Wikipedia.org


Leseprobe:

Bernt Lie

Der letzte Tag vor den Weihnachtsferien

Es trug sich hoch im Norden zu – nördlich vom Polarzirkel.
    Der alte Herr Winter war in diesem Jahr hier oben ordentlich launisch gewesen: Erst eine lange Reihe frostklarer Novembertage mit schimmerndem Neuschnee, Mondschein, Nordlichtern und Sternenflimmern. Doch dann kam der Dezember und dicke Wolkenmassen verdunkelten alles, was einst Licht und Glanz besaß und es wurde stockfinster. Der schwere Himmel erleichterte sich mit einigen eiskalten Regenschauern, welche den Schnee hinweg spülten. Der Himmel war schwarz und schwarz wurde es auf Erden und inmitten dieser Dunkelheit brach ein brüllender Nordwind los, der alles zwischen Meer und Himmel tosen und toben ließ in dieser unheimlichen Finsternis.
    Ja – es war die tiefste Polarnacht.
    Gegen Ende des Monats ließ der Sturm nach, aber die Wolkenmassen wurden wieder zu einem braungrauen Nebelwabern, das wie eine Decke über der schmutzigen Stadt lag.
    Die Paraffinlampen flimmerten wie Punkte in den Straßen und konnten nicht einmal zur Mittagszeit gelöscht werden, selbst die große Neue auf dem Markt leuchtete so schwach, dass sie extra Lichter an Madam Nagels Tisch benötigten, wo die Fischer Kaffee tranken und Sirupkuchen für einen Schilling aßen – es sei denn, sie standen direkt unter ihr.
    Oben in der Schule verlief schleppend der Unterricht in den vollen Jungenklassen, wo die Lampen in Reihen von der Decke hingen und den lieben, langen Vormittag qualmten. Die Pausen boten wenig Grund zu Frohsinn auf dem schlammigen Schulhof im Dämmerlicht, schläfrig und schlurfend, mit nassen Stiefeln, traten die Jungen nach dem Läuten der Schulglocke wieder ein, so dass die Diensthabende, welche die Gänge und Böden nach dem Unterricht reinigte, rasend wurde über all den Schmutz, der hineingetragen wurde.
    Im Lehrerzimmer hielten die Ober- und die Gymnasiallehrer zwischen den Stunden ein Nickerchen, mürrisch und bleich alle zusammen nach den schlaflosen Polarnächten, es war so weit, sie streckten sich ein wenig, als der Rektor aus dem Büro herunterkam mit einem Bescheid zum Stundenplan, ja, der Rektor war der einzig wache Mensch an der ganzen Schule, obwohl man jede Nacht das Licht im Büro sehen konnte bis in die Morgenstunden hinein. - Das würde ja jetzt auch schön aussehen, wenn selbst der Rektor eindösen würde! Aber daran war ja nicht zu denken.

    Es war die Stunde zwischen 12 und 13 Uhr und die 6. Klasse der Mittelstufe hatte Latein, es war schließlich Montag.
    Montag ist ein grauer Tag – der trostloseste von allen sieben Wochentagen, der Sonntag war viel zu weit weg in der Zukunft und viel zu nah in der Vergangenheit. Aber dieser Montag hatte gegenüber seinen tristen Brüdern im Kalender das Glück, der 22. Dezember zu sein und morgen begannen die Weihnachtsferien – die lange, schneeweiße, lichtfunkelnde Weihnachtsferienzeit, mit Sonntagskleidern an einer ganzen Reihe von Tagen, Mutters Keksdose zugänglich für mehr oder weniger erlaubte Annäherungen und selbst der Höhepunkt, der noch geheimnisvoll lockende Heilige Abend nicht zu verges… neein, pst! Wir müssen zuhören!
    „Alacer, acer, campester, celeber ...“
    „Nun, Kristen, weiter! - celebe ...“
    „Ce, ce ...“
    „Nicht doch! Celer!“
    „Celeber, celer, pedester ...“
    „Unsinn, Junge! Setz dich, du kannst ja gar nichts, du fauler Bengel. Mach du weiter, Anders.“
    Doppel-Anders, auch Jumbo genannt, war der Ruhepol der Klasse. War man mit Müh und Not so weit durch die Reihen gekommen von den „Bengeln“, den „Schlingeln“ und „Idioten“, dass nun Anders dran war, abgehört zu werden, da legte sich Ruhe über die Gemüter. Die zornigen Worte oben vom Katheder gingen über in ein sanftes Brummen: „Richtig, Anders, richtig!“, „Und weiter so, Anders!“, „Richtig, seeehr richtig!“ Und Jumbos gleichmäßiger, sicherer Ritt durch den nächsten Abschnitt des Lernstoffs ergab für die anderen reichlich Zeit, sich jeder seinem Tun zu widmen: Die noch nicht Geprüften blätterten in ihren Büchern unter den Tischen zwei Seiten vor und lasen weiter, die, welche die Schinderei mehr oder weniger gut überstanden hatten, gaben sich der einen oder anderen Beschäftigung hin: dem Schlummer oder mit besonderem Eifer der Herstellung von Papierkugeln.
    Aber Kristen Kjelstrup saß an seinem Fensterplatz ohne Schlaf und ohne Papierkugeln. Die Jalousie hing wie gewöhnlich fest und konnte nicht herab gelassen werden und Kristen starrte hinaus über die halbdunkle Stadt zum Sund, welcher sie grau und trostlos umströmte und zum Nebel, welcher auf der anderen Seite über den Bergen hing, beinahe bis ins Flachland hinunter. Ein Frachtkahn kämpfte sich gegen die reißende Strömung voran, sie hatten das Segel herunter genommen und ruderten.
    Pfui Teufel! Alles war nass und finster und für Weihnachten sah es übel aus!
    Nun, das konnte ihm genau genommen auch egal sein! Wenn er zu Weihnachten gar nicht erst heim nach Storviken kam, welchen Unterschied machte es dann für ihn, wie die Witterung war. Alles in allem – hier in dieser widerlichen Stadt konnten sie machen, was sie wollten, es änderte nichts an seinem Glück; sein Heimweh und sein Schmerz blieben der Gleiche bei Regen und bei Sonnenschein.
    Ach – nun war er seit den Ferien hier und hatte Heimweh und schlug sich herum mit Schularbeiten und dem Leben als Landratte und hatte diesen einen Trost: Weihnachten daheim! Heim zum Strand, zum Fischen, zu Krämerladen und dem neuen Frachtkahn, welchen Peder Smedbakken gebaut hatte, - zu Segeltouren über den Fjord zur Post mit dem Knecht Hilmar – nein, stimmt nicht, sie hatten nun einen neuen Knecht, seit Hilmar im Herbst nach Amerika ging. Wie der Neue wohl aussah? Und ob er genauso nett war wie Hilmar? Ach nein, das konnte man nicht erwarten. - Ein Frachtkahn und ein neuer Knecht, das war in der Tat auch keine Kleinigkeit. Und bis zu den Sommerferien sollte er nichts davon zu sehen bekommen! Und dann noch Vater und Mutter, ihm schien, er sähe sie stehen und aus dem Nebel zu ihm herüberwinken! Und Häusler Ola, der sollte die neuen Stadtkleider sehen und die Uhr, von der Schule hören, den Jungen und der Stadt, wie er den Sohn des Landrats verprügelt hatte, mit wie vielen er sich geschlagen hatte …
    Die Schule lag hoch, unten vor dem Fenster führte die Bergstraße geradewegs hinunter zur Bankenecke in der Großen Straße. Dort in der Großen Straße war es so hell erleuchtet, dass Kristen oben von seinem Fenster aus die Leute erkennen konnte, die dort unten entlang gingen: - gerade kam Sofie Abel vorbei mit dem aufgeblasenen, neuen Apothekerlehrling, welcher sie nie in Ruhe lassen konnte, dort ging er und plusterte sich auf – dieser lange Schlacks in seinem Frack und – Handschuhen! Um die Ecke bogen wie gewöhnlich um diese Zeit die Herren der Stadt auf ihrer Vormittagstour, - erst den Schulberg hinauf zur Post, welche gleich unter der Schule lag, - dort schimmerte eine bleichgelbe Leuchte in der Dämmerung vor der schwarzen Telegrammtafel an der Wand des Postgebäudes und darauf guckten alle zusammen nach einem Telegramm vom Postschiff. Dort kam lächelnd der Probst mit seinem Adjutanten Svendsen, der immer etwas Böses über die Jungen zu berichten hatte und dort war Gerichtsschreiber Abel, welcher die Frau unten am Fuße des Hügels stehen und warten ließ, während er selbst hinauf ging, um nachzusehen. Ach ja, er konnte gern den Kopf schütteln, er, der Kristen, wusste genau, was für eine Nachricht sie bekamen auf dem weißen Telegramm mit der blauen Schrift - „Die König Karl liegt wetterbedingt in Hammerfest, zwei Tage Verspätung.“ Er spürte den großen Schmerz, - das war ja das Todesurteil über sein Weihnachtsglück. War die König Karl zwei Tage verspätet, kam sie nicht vor dem 1. Weihnachtsfeiertag hier an und da hatte sie dann Zeitnot und fuhr nicht mehr nach Süden, nach Storviken; sie hatten diese schnöde Sitte den Winter über. Und dann kam die ganze lange Weihnachtswoche kein Schiff mehr und danach war es  zu spät!
    Diese dämlichen Dampfschiffkapitäne! Sie taten das nicht, weil sie so eine mörderische Eile hatten; sondern nur, weil sie so ungern zwischen den Schären durch den Sund fuhren!
    Ach, wie es wohl wäre, jetzt im Storviksund um die Landzunge zu biegen und die heimatlichen Häuser zu sehen! Unterhalb der Bootsschuppen läge der neue Frachtkahn, goldglänzend mit dem neuen Ölanstrich, - weiter oben an Land stand das weiße Haus mit den beleuchteten Fenstern von Büro und Küche; dort war Mutter sicher gerade mit dem Backen von „Armen Schluckern“ beschäftigt. Es war das erste Mal in Kristens Leben, dass er nicht mit dort draußen war, half, das braune Gebäck in Schmalz auszubacken und dabei das aus dem Topf spritzende heiße Fett ins Gesicht zu bekommen, so dass die Augen in Gefahr waren und die Stirn heiß brannte ….
    „Was ist los mit dir, Kristen Kjelstrup? Sitzt du da und weinst?“ riss ihn der Lehrer plötzlich aus den Gedanken.
    Da brach es aus dem Jungen heraus. Die ganze Welt, die vor seinem inneren Auge erschienen war, während er aus dem Fenster starrte, verschwand im Nu und er war wieder in der Lateinstunde von 12 – 13 Uhr und die ganze Jungenhorde begann zu prusten und zu lachen. Kristen wurde blutrot, aber der Lehrer kam zu ihm, legte die Hand auf seinen Kopf und fragte unerwartet sanft: „Warum weinst du, Junge?“
    Er schluckte und schluckte, aber dann war kein Halten mehr, – all das Elend, die Sehnsucht, die Sorge und Enttäuschung – der Strand und das Fischen, Vater und Häusler-Ola und Mutter, – Mutter, Mutter, – – und der große, schlaksige Junge lag schluchzend auf dem Pult!
    „Lieber Kristen, mein Junge ...“.
    Es klopfte vorsichtig an der Tür – es war bereits das dritte Mal, aber nun wurde es erst gehört.
    „Herein!“
    Die Tür wurde zögernd geöffnet und unendlich langsam kam erst ein schwerer Schifferstiefel, ein Bein, ein Kopf; die Verblüffung in der Klasse steigerte sich und schließlich stand ein triefender, riesiger  Kerl im Raum, mit einem Südwester in der Hand und verbeugte sich, so dass das Ölzeug ein klatschendes Geräusch erzeugte.
    „Guten Tag, gesegnetes Schaffen!“
    „Guten Tag, mein Herr, was wünschen Sie?“
    „Ah – äh – das – äh – das is jetzt nichts Besonderes, ich – äh – wollte –“, dann wandte sich der Mann plötzlich ganz unvermutet vom Lehrer ab und den Jungen zu, die sich mühsam das Lachen verkniffen.
    „Bin ich hier richtig gelandet, beim Jungen, der Kristen heißt und der Sohn des Kjelstrup von Storviken is?“
    Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich Kristen zu, der da saß und in Tränen versank.
    „Das – hick – bin ich – hick, hick –  ich bin das!“
    „Ich komme nu mit dem Frachtkahn von deinem Vater, um dich heimzuholen zu Weihnachten. Die haben hier Freitag telegrafiert, dass der Dampfer nich kommen tut, aber du solltest bald fahren und schnurstraks kommen; es ist nicht sicher, wie lange der Wind noch aus Süden bläst.“
    Kristen hatte sich erhoben, seine Augen leuchteten –
    „Aber“, unterbrach endlich der Lehrer, der völlig seine Fassung verloren hatte – „aber, mein guter Mann, Sie müssen bis zwei Uhr warten; so eilig kann es doch wohl nicht sein?“
    Da schmunzelte der Kerl:
    „Du als ein Lehrer weißt doch wohl, dass der Wind gegen Mittag abflauen tut – und sollen wir es mit dem Jungen bis Heiligabend heim nach Storvika schaffen, sollten wir schnellstens in die Gänge kommen. Die Herrin war der Auffassung, dass der Junge jetzt heim muss zu dieser Zeit.“
    Die Jungen lachten nun übermütig, wahrscheinlich überzeugt davon, dass „er, als ein Lehrer“ nicht die leiseste Idee von den Launen des Windes hatte.
    Selbst der Lehrer konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Ja, setzen sie sich ein wenig, mein guter Mann, so werde ich zum Rektor gehen und mit ihm reden. Während dessen seid ihr still, Jungs.“
    Der Lehrer ging und „der gute Mann“ setzte sich in die Ecke. Das Wasser rann an ihm herunter und bildete unten eine Lache.
    „So siehst Du also aus, Du, der Kristen gerufen wird!“
    Das Gelächter nahm bis zur Unbändigkeit zu.
    „Ja lachen, das können die Stadtjungen!“ bemerkte er mit verschmitzter Miene, während das Gelächter wellenartig gegen die Wände brandete.
    „Lacht nur, ihr kleinen Kerle – der Schiffer kann etwas Belustigung gebrauchen; mit dem Vergnügen isses ja nich weit her in diesem Kabuff!“
    Als er im gleichen Augenblick die Lampen betrachtend hinauf sah, klatschte eine nasse Papierkugel an sein Ölzeug – dann noch eine, zwei, drei, in einem fort, ins Gesicht, gegen den Südwester und Regenmantel – aber er lächelte nur und betrachtete sie sehr interessiert.
    „Oh Junge, Junge – ein Hafenarbeiter is wie der andere, egal wo man ihn trifft!“
Da kehrte der Lehrer mit dem Rektor zurück und es wurde totenstill. Der Rektor wirkte außerordentlich ernst.
    „Guten Tach! Er is wohl der, der Rektor genannt wird, meine ich?“
    „Jaah, das bin ich wohl“; es zuckte um des Rektors strengen Mund und es schien, als könne er die vor Lachen beinahe platzenden Jungen kaum ansehen.
    „Sie wollen Kristen Kjelstrup auf der Stelle mit sich nehmen?“
    „Ja-ha! Genau das war die Absicht. Weil die Herrin den Jungen jetzt unbedingt zu Hause haben wollte am Weihnachtsabend, was vernünftig sein könnte, ja, du hast wohl selber Kinder, so alt wie du bist, - da wirst du das wohl besser als ich verstehen.“
    „Hm, hm!“ - der Rektor ging hastig ein paar Schritte, während seine Hand angestrengt versuchte, das widerspenstige Mienenspiel zu beruhigen - er stoppte vor dem Fenster und sah hinaus. Der Lehrer hatte sich zur Tafel gewandt; von den Jungen unten war hin und wieder ein unterdrücktes Lachen zu vernehmen, vergeblich unterdrückt durch einen Kniff in die Nase oder das Taschentuch im Mund. Vom Fenster aus starrte ein Paar erwartungsvolle Augen auf den Rektor.
    „Hm, hm!“ - es klang, als hätte der Rektor große Zweifel - „hm, hm!“ Ganz plötzlich wandte er sich Kristen zu:
    „Du liebes Bisschen, hast du noch nicht einmal deine Bücher zusammen gepackt? Du hörst doch, es eilt, sonst hat deine Mutter dich nicht daheim am Heiligabend!“
    „Kriege – kriege ich die Erlaubnis?“
    „Beeil dich, lass den Mann nicht warten!“
    Der Rektor wandte sich zurück an den Mann im Ölzeug:
    „Sie haben sicher eine anstrengende Fahrt südwärts nach Storviken?“
    „Ha – nein, Ärmster, südwärts isses jetzt nich so gefährlich, mit diesem Wind da.“
    Der Rektor hatte merklich Mühe, Mund und Beine unter Kontrolle zu halten.
    „Hört her, Jungs“, sprach er plötzlich zur gesamten Klasse, „seht ihr es so wie ich, dann beenden wir ebenfalls alle die Schule. So kommt Kristen endlich an Bord.
    Na – da kam Leben in die Bude! Blitzartig verschwanden sämtliche Köpfe unter den Pulten, lärmend und polternd fanden Bücher und Schreibzeug ihren Weg in die Ranzen.
    „Gute Reise, Kristen! Grüß Vater und Mutter von mir und fröhliche Weihnachten! Gute Reise, Jungs, allen zusammen ein frohes Fest!“
    Kurz darauf stürmte die 6. Klasse der Mittelstufe mit den Büchern unter den Armen hinunter, den Schulberg hinab, vorbei am Postgebäude – mittendrin Kjelstrup und der neue Knecht von Storviken, der Südwester überragte weit alle anderen Kopfbedeckungen und die schweren Schifferstiefel schlurften voran mit doppelt so langen Schritten wie die trippelnden Jungenbeine. Aber hier draußen auf der Straße war der Tonfall ein ganz anderer: – hier gab es weder Gekicher noch Papierkugeln, nicht doch, die kundigsten Bemerkungen und ernsthafteste Fragen über Strömungsverhältnisse und Windrichtungen und Kjelstrups neuer Knecht antwortete und gab Auskunft. Unten an der Bankenecke teilte sich die Horde, - Kristen und der Knecht wollten hinunter zum Kai, die anderen verstreuten sich in der Stadt. Da wurden die Hände geschüttelt, dass den Jungen noch am Abend vom Händedruck des Knechtes die Finger schmerzten und „Gute Reise und frohe Weihnachten!“ gewünscht.
    „Vielen Dank, das wünsche ich auch!“ rief Kristen froh.



   

Share by: